Yvonne Roeb

 

Das Unheimliche als Exponat. Yvonne Roebs kunstfertige Sinngebilde ,
von Dr. Michael Krajewski

Yvonne Roeb ist Bildhauerin – ihr Augenmerk konzentriert sich auf jedes Werk neu, es entsteht in einem Prozess, dessen Ergebnis singulär, selbstgemacht und autonom ist, doch ohne überkommene Materialgerechtigkeit. So überzieht sie durchaus Keramik mit Lack anstatt Glasuren, setzt einmal Bauschaum ein, wo man Bronze vermutet hätte, und patiniert das Ergebnis. Die handwerkliche Perfektion lässt keine Spur der Fertigung ablesen. Damit unterscheidet sich ihr bildhauerisches Verfahren von einer aktuell verbreiteten Praxis, die mit Konzepten, Prozesshaftigkeit, industrieller Produktion oder Serialität hantiert und Kontexte außerhalb des Kunstwerks visiert. Im Vergleich erscheint ihr ursprünglich bildhauerischer Prozess aus der Zeit gefallen – das „Unzeitgemäße“ zeigt sich zuweilen als kostbar und zart, jedoch keineswegs als klassisch-dekorativ und augenschmeichlerisch. Es stellt eine Herausforderung an die Sinne dar.Die seltene Kombination aus Kunstfertigkeit, Detailfreude und rätselhafter Motivwelt scheint danach zu rufen, symbolisch entschlüsselt zu werden. Exemplarisch lässt sich der kopfgroße Conformer (2015) anführen, der sich dem ersten Blick als Tierpräparat darstellt. Dimension, Oberfläche und Materialität lassen uns ein reales Schalentier vermuten, zumindest ein Naturimitat oder Schaumodell. Nur der intensive Beobachter erfasst, dass dort eine Krabbe und eine tragende Muschel verschmolzen, eine lebensbedrohende Symbiose eingegangen sind, sich uns also ein Unding oder Unwesen zeigt. Der alte philosophische Gegensatz von „Natura naturans“ – „natura naturata“, von Naturprodukten, welche die Quellen ihrer Entwicklung in sich tragen, und Kunstprodukten, deren Entstehen durch anderweitige Ursachen erklärt werden muss, nimmt hier eine neue, aktuelle Bedeutung an. Nach den Katastrophen von Harrisburg, Tschernobyl oder Fukushima kann dies anders als in vormodernen Zeiten nicht nur ein Fabelwesen visualisieren, sondern ebenso ein Drohbild unserer Realität. Doch Conformer wird auch als Sinnbild lesbar, im Titel versteckt sich die „Konformität“ – eine Anverwandlung an das scheinbar tragende Umfeld. Die psychologische Situation, die jedem vertraut ist, wird nahezu allegorisch vor Augen gestellt. Solche Ambivalenzen durchziehen Roebs gesamtes Werk: vordergründige Anschaulichkeit, die sich dann vertiefter Interpretation und damit einem vormodernen allegorischen Sehen öffnet. Zusätzlich verknüpft sie ihre Motive mit den „großen Themen“: Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir? Female (2011): ein antiker Kopf, weiß, klassisch und virtuos modelliert, doch seltsam deformiert. Denn die linke und die rechte Gesichtshälfte, jede in ihren Proportionen vollkommen, unterscheiden sich voneinander, Augenpartie, Stirn, Mundwinkel, Wangen- und Kinnrundung prägen sich jeweils anders aus – und ergeben obendrein ein „schiefes Gesicht“. Wer weiß, dass Roeb ein ideales männliches und weibliches Antlitz miteinander verschmolzen hat, kann nicht umhin, die Schönheit der jeweiligen Seite anzuerkennen. Sie hat eine Analyse von Männlichkeit und Weiblichkeit unternommen, in der sich, wie in einer methodischen Versuchsanordnung, das Unerprobte zum Zweck seiner Beobachtung visualisiert. Der Betrachter muss entscheiden, ob sich die Synthese als Vexierbild zweifacher Vollkommenheit oder als groteske Monstrosität präsentiert.

Die Bildhauerei scheint sich als singuläre Gattung und Aufgabe aufgelöst zu haben in den zahlreichen Methoden, der sich Künstlerinnen und Künstler heute bedienen. Doch tatsächlich kann Roebs scheinbar „unzeitgemäße“ skulpturale Praxis und Thematik auch im zeitgenössischen Diskurs verortet werden; es gibt Parallelen und Vorläufer. Ihr Kunstwollen ist keineswegs unbedarft, auf motivische Extravaganz oder Beherrschung von Technik und Material konzentriert. Während des Studiums ist sie in Kontakt gekommen mit einem abgebrühten Konzeptualisten, Timm Ulrichs, und der genuinen Bildhauerin Katharine Fritsch, die für unterkühlte Formensprache, motivisches Kalkül und Perfektion steht. Kaum ist ein Einfluss des radikalen Ironikers wahrnehmbar, wohl aber die Wahlverwandtschaft zu Fritschs Fähigkeit, Unheimliches anklingen zu lassen. Die beiden Künstlerinnen verbindet der Hang zum Unerklärlichen, zuweilen Monströsen. Prominenten Skulpturen wie Mann und Maus (1991/92) und Rattenkönig (1993)eignet eine Monumentalität, die konsumästhetisch, nahezu plakativ anmutet. Trotz gesteigerter Künstlichkeit zeigen sie sich primär als Projekt menschlicher Imagination. Der Begriff Monster wurzelt etymologisch tatsächlich im lateinischen Verb „monstrare“ (zeigen): das Ungeheuerliche stellte sich im vorsäkularen Zeitalter als Zeichen dar, das auf bestimmte Eigenschaften, Hoffnungen oder Ängste verweist und noch heute auch auf diejenigen, die mit ihnen konfrontiert werden.

In der Dimension eher vergleichbar sind Figurationen der 1970er-Jahre von Tetsumi Kudo, Alina Szapocznikow oder Paul Thek, deren Eigenwilligkeit und Subjektivität lange aus dem Blick des Kunstbetriebs geraten waren, womöglich weil sie vor allem als Ausdruck existenzieller, aber kaum vermittelbarer persönlicher Erfahrungen rezipiert wurden; selbst unter dem Stichwort Individuelle Mythologie blieben sie theoretisch marginalisiert. In den letzten Jahren treffen solche Positionen auf eine neue Sensibilität, weil sie nicht nur entschlüsselbare Bilder der eigenen Verletzlichkeit, sondern auch für aktuelle kollektive Gefährdungen der Natur, des Körpers und eines gestörten Gleichgewichts der Umwelt transportieren. Zu ihrer Entstehungszeit wurden sie aber nicht breit wahrgenommen, da parallel revolutionäre künstlerische Entwicklungen auftraten, die Bildhauerei grundlegend in Frage stellten. Als Skulptur sich entmaterialisierte und gleichzeitig erweiterte, erschien das Festhalten an formaler Bewältigung und kontemplativer Visualität rückschrittlich.

Das gilt auch für die Evokationskraft, die gesteigert individuell oder rituell erfahrbar ist bei traditionellen kultischen Objekten in figurativer Form. Der künstlerischen Umwertung solcher Figuren widmete sich 1968 ausgerechnet ein Vordenker digitaler Ästhetik, Jack Burnham, der die Theorie einer softwarebasierten Kunst mit Systemcharakter entwickelte. Der automatisch generierten Immaterialität stellte er die „Objektkunst“ entgegen, die es zu überwinden galt; dabei gelang ihm paradoxerweise eine anschauliche ästhetische Neuinterpretation: Burnham zählte dazu Fetische, Idole, Amulette, Totenbilder, Puppen, Wachsarbeiten, Gliederpuppen, Marionetten und am dramatischsten Automaten. Künstlerisch gewöhnlich weit unter der Skulptur eingeordnet, verdanken sich vieler dieser Artefakte nicht jedem westlichen Schönheitskonzept, sondern praktischen Gründen. Burnham konstatiert, dass die befreienden Tendenzen der Modernen Kunst und die Entdeckungen der Archäologen die Historiker endgültig dazu zwangen, die ästhetische Leistung und den steigenden Rang anderer anthropomorpher Formen wahrzunehmen. Vielleicht ist es nicht so ganz überraschend, dass diese Bestimmung der auratischen und materialfernen Unmittelbarkeit ein technikafiner Theoretiker formulierte, dem ebenfalls die „Entmaterialisierung des Objekts“ vertraut war; seine Analyse sucht strukturelle, nicht formale Verwandtschaften.

Figurative Objekte betrachtete Burnham unter einem anderen Blickwinkel als die Gründergeneration der Moderne, die formale Emanzipation in den Vordergrund gestellt hatte. Als „Elemente der Wirklichkeit“ hatte diese für die Moderne Plastik vorrangig Phänomene wie „Masse und Auflockerung“, „Volumen und Raumgestaltung“ oder „Figur und Raum“ akzeptiert und mit Pathos eine „Selbständige plastische Realität“ formuliert, „eine andere … als die Realität der Natur und des menschlichen Lebens“ ausgerufen. Bei der Suche nach neuer skulpturaler Präsenz, wanderten die poetischen Bilder aus und transformierten sich. Die Emphase des Gestalters, eines Künstlers als Formgeber des Materials, wich einem anderen Künstlerbild: dem des Konstrukteurs, des Arrangeurs formaler Mittler, des Intellektuellen, des Ideensuchers, des Politikers. Während die klassische Moderne die direkte Leiblichkeit in anthropomorphen Objekten als literarisch und wesensfremd empfunden hatte, bewertete Burnham sie als ernstzunehmenden Gegenpol einer systembasierten Kunst und zeigt damit en passant die Verwandtschaft zur Konzeptkunst und Minimal-Art auf. Mit der Referenz auf Burnham sollte zwei Jahrzehnte später Mike Kelley sein Projekt The Uncanny einleiten, jene wilde Sammlung seiner farbigen figurativen Skulpturen, die er mit Alltagsobjekten, Kunstwerken, Produkten, Fotografien und Ephemera mischte, die das Unheimliche verkörpern. Das Langzeitunternehmen, in dem realistische Repräsentationen die bedrohende Rolle des „Doppelgängers“ übernahmen, bildete einen wichtigen Impuls für die Wiederkehr der Figuration in der postmodernen Ära. Das Bedrohliche in figürlicher Konstellation ist häufiges künstlerisches Thema in Mike Kelleys Generation, bei Robert Gober, Katharina Fritsch oder Martin Honert, aber in der Wucht installativer und ausgreifender Dimensionen, seltener im intimen Format der Kleinplastik. Yvonne Roeb ist auch damit aus der Zeit gefallen und doch höchst zeitgenössisch.

Eine der wichtigsten skulpturalen Innovationen des 20. Jahrhundert war das avantgardistische Objekt, das im Surrealismus der 1930er- bis 1940er-Jahre seine theoretische Fundierung und größte Verbreitung fand. Der begleitende Diskurs, der anstatt Kontemplation diskursive Rezeption forderte und alternative Wirklichkeitsaneignung und -reflexion anstrebte, weist Parallelen zu Roebs Vorgehensweise auf. Die surrealistische Theorie definierte diese Gegenstandsmontagen nämlich als „symbolisch funktionierende Objekte“, in denen sich Unbewusstes und Verdrängtes, Wunschprojektionen und Träume manifestieren sollten. Das Erkenntnisinteresse war hoch gehängt. Tatsächlich beschränkten sich die Montagen zuweilen auf kleinste Hinzufügungen, erzielten dennoch eine totale Umdeutung. Es überrascht noch heute, wie einfach oft diese surrealistischen Eingriffe, wie verblüffend die Wirkungen sind. Detailveränderungen des Alltäglichen stellten die ganze Ding-Bedeutung in Frage, wie man einem der bekanntesten Objekte Man Rays entnehmen kann, Cadeau (1921), einem Bügeleisen, dessen Fläche eine Reihe Reißnägel überzieht. So wird die Funktion ad absurdum geführt, und es entsteht eher ein Folterinstrument. Einfache, aber effektvolle Verschiebungen dieser Art finden sich auch in Yvonne Roebs Werken, etwa bei Voyager (2005) (Abb.), einer Konsole mit Motorradhelm, dem Tierohren wachsen. Wer einen solchen Helm getragen hat, weiß, wie wenig darin zu hören ist. Never (2012) (Abb.), ein Vorhängeschloss, dessen Bügel eine Reihe von Schlüsseln aufreiht und somit versperrt ist, erzeugt auf simple Weise die wirkungsvollste Metapher der Negation. Nur selten setzt Roeb Readymades ein, formt sogar Fossilien oder Knochen minutiös nach; so hat sie auch die Maske ihres Clown (2011), die sie wie in effigie auf einem Sockel präsentiert, selbst modelliert, gegossen und farbig gefasst. Von Ferne erscheint die vom Kopf auf die Füße gestellte Verfremdung als Analogie zu René Magrittes berühmter Bearbeitung der Totenmaske Napoleons, die ein Wolkenhimmel überzieht. Surreale Objekte integrieren häufig Abformungen von menschlichen Rümpfen, Köpfen, Händen und Füßen in jeglicher Form. Roeb setzt Körperfragmente in äußerst zurückgenommener Form ein. Gegenüber dem surrealistischen Körperfetischismus wirken Roebs Eingriffe zart und zerbrechlich: Next I noticed it was spring (2011) oder Fairy ring (2010), erscheinen als Fingerübungen, plastische Capriccios mit szenischen Elementen.

Interessanterweise entwickelten die Surrealisten sogleich eigene Objektkategorien: Salvador Dalí unterteilte sie in „symbolisch-funktionierende Objekte“, „transsubstantionierte Objekte“, „zu entwerfende Objekte“, „verhüllte Objekte“, „mechanische Objekte“ und „Argusobjekte.“ André Breton ordnete sie in „mathematische Objekte“, „Naturgegenstände“, „exotische Objekte“, „Fundstücke“, „irrationale Objekte“, „Readymades“, „gedeutete Objekte“, „Objekte“, „konstruierte Objekte“ und „bewegliche Objekte“. Die Analogie zu naturwissenschaftlichen Systematiken ist durchaus nicht zufällig. Etwa erinnerte die einförmige Aufreihung in nüchternen Vitrinenschränken der ersten surrealistischen Objektausstellung 1936 an ein Naturalienkabinett, auch wenn dessen Rationalität bewusst gebrochen war. Allzu weit wollte man die Pseudo-Wissenschaftlichkeit doch nicht treiben. Das Zeigen und Ordnen der Objekte in Vitrinen, Schaukästen, Dioramen, Displays und sogar Schaufenstern blieb in der Folge ein beliebtes Vehikel surrealistischer Inszenierungen.

Introspektion und Reiselust sind die Inspirationsquellen, aus denen Roeb schöpft: erstaunlicherweise das Innere und das Entfernte. Sie beschreibt den bildhauerischen Prozess als disziplinierte und kunstfertige Erkundung, indem sie neue Methoden als Herausforderung erprobt und ihre Arbeit auf das Ergebnis hin lenkt. In der Tat sind die Formfindungen, die Transformation, Metamorphosen, Objekthaftes und Vegetabiles anklingen lassen, heterogen – keine Serien, Einheitlichkeiten oder motivische Werkgruppen ließen sich einfach festlegen. Und doch existiert eine unterschwellige Verwandtschaft im Verschiedenen, die Roeb als roten Faden beschreibt: Sie verbindet mit dem Monströsen das Gegenbild, mit dem Zwitterwesen die Illusion einer Alternative, die Sehnsucht nach Wahlmöglichkeit, und mit den naturhaften Formen die Conditio humana, eine Körperlichkeit, deren Wachsen, Reifen, Vergehen und Altern alle Menschen vereint.

Roeb wendet sich dabei besonders intensiv dem Tier zu. Sie begreift es nicht nur in der Verweisfunktion, sondern als reales Gegenüber, dem der Mensch existenziell verbunden ist und das sich daher eher als Ebenbild denn als verfremdeter Gegenstand darstellt. In der zoologischen Verkörperung vermag es der Betrachter zuweilen als Sinnbild zu entschlüsseln, wie Acephalous (2011), zwei Greifvögel zeigen, die am Kopf miteinander verwachsen sind. Die Darstellung der stolzen Wappentiere ist lesbar als Groteske oder virtuose Spiegelung einer Skulptur; sie steht aber auch psychologischer Deutung offen: als Prozess einer inneren Teilung, einer Metamorphose oder der Verschmelzung zweier hilfloser Lebewesen. Zuweilen geben Roebs Titel, literarische und mythologische Anspielungen, Hinweise: So galt das phantastische Volk der Acephalen in der mittelalterlichen Vorstellung als eine Menschenrasse ohne Kopf. Dass den Greifen ausgerechnet der Sitz von Geist und Verstand fehlt, wird zum grausamen Schauspiel. Die Objekte können zugleich als Katalysatoren der Imagination und Reflexion verstanden werden. So sind zuweilen Resultate entstanden, die man früher in „Kunst- und Wunderkammern“ versammelt hätte: Die Freude am Fremden und Rätselhaften bestimmte die Vorliebe für Kunstkammerstücke. Alraune, Mineral oder Koralle galten als wundervolle Elemente einer exotischen, verzauberten Natur; virtuos gestaltete Preziosen sollten zusätzlich ihre Wirkung erhöhen. Die Kunst- und Wunderkammern der Barockzeit verstanden sich als Ort des Wettstreits zwischen natürlichem Formenreichtum und menschlicher Kunstfertigkeit. Auch Roebs Atelier hat sie mit solchen Objets trouvés gefüllt. Sie befriedigten jedoch nicht nur die menschliche Schaulust nach Ungewöhnlichem, Exotischem und Bizarrem, sondern beanspruchten die Möglichkeit eines Welterklärungsmodells, in dem wissenschaftliche Erkenntnis und künstlerische Imagination auf gleicher Höhe standen. Eine rudimentäre Systematik unterteilte bereits in „Naturalia“ (Naturobjekte), „Artificialia“ (Artefakte), „Scientifica“ (Wissenschaftliche Instrumente) und „Exotica“ (Objekte aus fernen Ländern). Die Klassifizierung in Vitrinen und Regalen bestimmten also Herkunft, Morphologie, Anschaulichkeit und Faktizität – Schauen und Verstehen bildeten also eine Einheit. Die Ars Combinatoria, jene Fähigkeit, Objekte aus unterschiedlichsten Bereichen in Beziehung zu setzen, zersplitterte im Lauf der Aufklärung in Einzeldisziplinen. Wissenschaftlicher Komplexität, Abstraktion und Kausalität schien ein Denken überholt, das allumfassend alle Wesen, Dinge, Phänomene miteinander zu verbinden suchte. Doch in einer digital geprägten Welt erscheint gerade die Analyse von chaotischen, assoziativ oder kontrolliert entstandenen Bildern wieder als Grundlage innovativen und kreativen Denkens. Die Aktualität der Kulturtechnik hat der Kunsthistoriker Horst Bredekamp schon vor zwei Jahrzehnten erfasst: „Angesichts dessen, daß sich die Grenzen von Kunst, Technik und Wissenschaft auf ähnliche Weise zu öffnen beginnen, wie diese die Kunstkammer vorgeführt hat, erhält ihre Schulung visueller Assoziations- und Denkvorgänge […] eine Bedeutung, die den ursprünglichen Stellenwert womöglich noch übertrifft.“

Solche auf das Objekt bezogenen Erkenntniswege greift Roeb nicht nur in ihren sinnbildlich aufgeladenen Skulpturen auf, auch beigegebene Glashauben oder Vitrinen verweisen auf den Anfang wissenschaftlicher und musealer PräsentationFür ihre Duisburger Ausstellung entwickelt sie eine eigene Installationsform: eine Art Diorama, eine auf den ersten Blick minimalistische Struktur, deren Proportion die umgebende Architektur aufgreift. In das skulpturale Stahlgestell, das sich auf horizontale und vertikale Raumlinien reduziert, sind Konsolen und Hängevorrichtungen integriert. Die Konstruktion ermöglicht es den Besuchern, die 14 Skulpturen aus der Distanz im Zusammenspiel, aus größter Nähe und von jeder Seite zu betrachten. Denn die ausgewählten Stücke sind nicht auf eine Schauseite festgelegt, sondern auf Rundumsicht hin modelliert. Bereits fotografische Sequenzen, auf denen die Kamera sie umkreist, lassen erahnen, wie reizvoll sich die Seiten darstellen. Um diese Wirkung zu erproben, hat Roeb vorab ein Holzmodell in Originalgröße errichtet, das auch Platzierung, Raumtiefe und Ausleuchtung möglichst genau planen lässt. In dem abstrakt interpretierten Diorama bilden Schauen und Verstehen wieder eine Einheit. Im Großen wie im Kleinen zeigt sich Präsentiertes und Präsentierendes als Denkmodell und als autonome ästhetische Skulptur, die unsere Imaginationskraft und Reflexion anspricht.

Jack Burnham, Beyond modern Sculpture. The Effects of Science and Technology on the Sculpture of this Century, New York 1968, S. 185.
Carola Giedion-Welcker, Moderne Plastik. Elemente der Wirklichkeit. Masse und Auflockerung, Zürich 1937; oder Dies., Moderne Plastik. Volumen und Raumgestaltung, Stuttgart 1955; Eduard Trier, Figur und Raum. Skulptur im 20. Jahrhundert, Berlin 1960.
Giedion-Welcker 1937 (wie Anm. 2), ebd. S. 13.
Jack Burnham, „Objects and Ritual. Towards a working Ontology of Art“, in: Arts Magazine, Bd. 47, Nr. 3, Dez. 1972/Jan. 1973, S. 28–32.
Mike Kelley, „Playing with dead Things. On the Uncanny (1993)“, in: The Uncanny. By Mike Kelley. Artist, hrsg. von Christoph Grunenberg, Ausst.-Kat. Tate Liverpool/MUMOK Wien 2004, Köln 2004, S. 25–38.
Siehe die Definition von Salvador Dalí: „Objets surréalistes“, in: Le Surréalisme au Service de la Révolution, Nr.  3. [Paris] Dez.  1931, S. 16f. (dt.: „Surrealistische Objekte“, in: Als die Surrealisten noch Recht hatten, hrsg. von Günter Metken, Hofheim 1983, S.  358–361, hier S. 359).
Dalí 1931 (wie Anm. 6), ebd.
André Breton, „Crise de l‘objét“, in: Cahiers d’art, Bd. 11, Nr.1/2, Mai 1936, S. 21–26, hier S. 22 (= Sonderheft Exposition surréaliste d‘objets, Galerie Charles Ratton) (dt.: „Die Krise des Objekts“, in: Ders., Surrealismus und Malerei, Berlin 1965, S.  287f.) und Ders., „Situation surréaliste de l’objet. Situation de l’objet surréaliste“ (1935), in: Ders., Œuvres complètes. Bd.  2, Paris 1992, S.  473–481 (dt.: „Surrealistische Situation des Gegenstands“, in: Imagination. Internationale Ausstellung bildnerischer Poesie, Ausst.-Kat. Museum Bochum 1978. S.  34–51a).
Vgl. Man Rays Aufnahmen in: Surreale Objekte. Objekte und Skulpturen von Dali bis Man Ray, hrsg. von Ingrid Pfeiffer und Max Hollein. Ausst.-Kat. Schirn, Frankfurt am Main, Ostfildern/Ruit 2011, S. 166, 172.
Vgl. Julius von Schlosser, Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance. Ein Beitrag zur Geschichte des Sammelwesens, Leipzig 1908.
Vgl. das Kapitel in dem anregenden Buch von Steve Johnson, Wo gute Ideen herkommen. Eine kurze Geschichte der Innovation, Bad Vilbel 2013, S. 113–143. Johnson stellt „Serendipität“ – vereinfacht gesagt – als Neukombinationen und glückliche Zufälle vor, die gepaart mit Scharfsinn schöpferisch wird. Er glaubt, dass das Internet Serendipität in unserer Alltagskultur fördert.
Horst Bredekamp, Antikensehnsucht und Maschinenglaube. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. Berlin 1993 (2. Aufl.), S. 102.