Yvonne Roeb

 

Göttliche Wesen
Archetypen im Zeitalter der digitalen Medien
von Dr. Söke Dinkla

Einen größeren Gegensatz kann es kaum geben: die intimen, meist kleinformatigen skulpturalen Wesen Yvonne Roebs und die radikale Transparenz und Offenheit der monumentalen Glasarchitektur des Lehmbruck Museums. Für die Reihe „Sculpture 21st“ hat Yvonne Roeb die Installation „Divine Beast“ geschaffen, in der sie Werke aus einem Jahrzehnt, von 2005 bis 2015, arrangiert.

Unter dem Titel „Sculpture 21st“ zeigt das Lehmbruck Museum seit 2014 monographische Präsentationen wichtiger Bildhauerinnen und Bildhauer des 21. Jahrhunderts, die grundlegende Fragen an die Kunst, das Museum und ihr Verhältnis zur Gesellschaft stellen. Die ikonische Glashalle, die sich mit unübertroffener Transparenz in den Kant Park öffnet, bildet hierfür den konzeptuellen Rahmen. Die unmittelbare Verbindung in den Park und in die Stadt hinein wird von keinem anderen Gebäudeteil des Museums so deutlich symbolisiert wie von der imposanten nördlichen Glashalle. Spektakulär durch seine an drei Seiten großflächig verglasten Scheibenfronten aus über sieben Meter hohem Kristallspiegelglas stellt die vitrinenartige Glasarchitektur Exklusivität und Abgeschlossenheit in Frage. Diese Offenheit ist der Impuls für die programmatische Reihe „Sculpture 21st“, die die architektonische Schnittstelle zwischen Museum und Öffentlichkeit nutzt, um in wechselnden Präsentationen das Werk bedeutender Bildhauerinnen und Bildhauer zu zeigen.

In diesem gläsernen Baukörper der Moderne haben Tino Sehgal (*1976, GB), Monika Sosnowska (*1972, Pl), Eija-Liisa Ahtila (*1959, Fl), Erwin Wurm (*1954, AU) und Wiebke Siem (*1954, D) ihr Werk gezeigt, mit dem sie wesentliche Aspekte der Skulptur des 21. Jahrhunderts beispielhaft repräsentieren. Historisch wichtige Ausgangspunkte bilden dabei die Konzeptualisierung und Dematerialisierung der Kunst im 20. Jahrhundert. Das Austarieren einer neuen Balance zwischen materieller, physischer Manifestation und ephemeren Werk zeichnet die Präsentationen der Arbeiten von Tino Sehgal, Monika Sosnowska und Eija-Liisa Ahtila in unterschiedlicher Weise aus. Zugleich beobachten wir heute in der Skulptur Tendenzen der Rematerialisierung und neue Formen der Figuration und Narration, wie das Werk von Erwin Wurm, Wiebke Siem und Yvonne Roeb zeigen.

Gerade im Wechselspiel mit der umgebenden Architektur einer der herausragendsten Museumsbauten der Moderne entstehen Bezüge, die die Werke verstärken und neue Blicke auf die Moderne aus heutiger Sicht zulassen. So wie Manfred Lehmbruck, der Architekt des Museums, der technizistischen und kühlen Architektursprache des International Style mit der Wahl von Naturmaterialien einen emotionalen Moment hinzugefügt hat, geht es in der Reihe „Sculpture 21st“ darum, den musealen Raum in seiner ästhetischen Dimension als Raum der besonderen Wahrnehmung, der aesthesis, zu stärken.

Die Installation „Divine Beast“ von Yvonne Roeb tut dies in einer besonderen Weise: Sie überführt die architektonische Grundstruktur des Baukörpers in ein Denkmodell. Roeb bildet den Stahlrahmen der Glashalle im Maßstab 1:20 nach und arrangiert ihre Skulpturen in diesem dreidimensionalen „Rahmen“. Hier versammeln sich nun so unterschiedliche Werke wie „Go Go Gadget“, „Midnight Rider“, „Inner Part“, „Spine“, „Käfer“, „Animale“, „Weltempfänger“, „Eselsohren“, „Agave“, „Voodoo II“, „She was once like me“, „Fossil“, „Auguria“ und „Materia Prima“. Zueinander geordnet in diesem Denkgerüst nehmen sie uns in ihrer fast schon grotesken Fragmentarisierung und Leblosigkeit gefangen. Zugleich stellt sich eine emotionale Nähe und Verbundenheit mit den meist kleinformatigen skulpturalen Wesen aus der Tier- und Pflanzenwelt ein.

Die Strategie der Verkleinerung, der Reduzierung von Monumentalität, mit der Yvonne Roeb die Größe der Architektur auf ein menschliches Maß zurückführt, ist ein Kennzeichen auch ihres skulpturalen Werks und eine bewusste inhaltliche Setzung: „In der heutigen Zeit, in der der Kunstmarkt Gigantismus betreibt und Galerien Flughangars besitzen, habe ich mich mit dieser Frage auseinandergesetzt. Meine Arbeiten zu vergrößern, sie aufzuplustern und ihnen dadurch schon eine Bedeutung zu geben, widerstrebt mir. Größe bedeutet nicht Kraft oder Ausstrahlung. Meine Kunst lebt stark von meiner persönlichen Arbeit, von der Nähe zum Detail und zum Material. Ich denke, dass es für Alles das richtige Maß gibt. Ich glaube auch, dass man einem Werk nicht mehr hinzufügen kann, als es selbst schon ist, noch darf man etwas weglassen.“ Yvonne Roeb erschafft ihre skulpturalen Wesen meist in Realgröße und verzichtet dabei auf ganz bestimmte Teile, sie führt sie auf das für sie Wesentliche zurück: In minutiöser präziser bildhauerischer Arbeit entwickelt sie eine neue Strategie der Abstraktion in der Figuration.

Für ihre Installation „Divine Beast“ hat sie Skulpturen aus den wichtigsten Themenbereichen ihres Schaffens ausgewählt, die für sie eine persönliche, über die letzten Jahre bleibende Bedeutung besitzen: Das Traumhafte, Surreale, die Fragmentierung und die Verpaarung. Es gehe in ihrem Werk, so Roeb, um Naturkunde, um innere Kreisläufe und körperliche Prozesse. Diese Themen finden wir auch in den Werken der Duisburger Installation wieder. Die dort arrangierten Skulpturen wirken fragil, verletzlich und appellieren an unseren Tastsinn. Eine der Ursachen hierfür ist die ungewöhnliche Materialwahl. Roebs Skulpturen sind aus weichen Materialien wie Wachs, Silikon, Gips oder Tierhaar, andere aus Keramik, Metall, Polyester und Bauschaum. Oft werden ihre Oberflächen auf ungewöhnliche Weise beschichtet, so dass sie etwas anderes zu sein scheinen als sie tatsächlich sind und uns über ihre wahre Materialität täuschen. Dieses materialästhetische Mimikry ist eine der Qualitäten, die das skulpturale Werk der Yvonne Roebs unverwechselbar machen. Die Oberflächenbeschaffenheit ihrer Skulpturen verführt uns dazu, durch (imaginäres) Ertasten zu prüfen, ob wir unseren Augen trauen können.

Nicht nur die Oberflächen der Skulpturen, sondern auch die Formen der Werke geben uns Rätsel auf. Ist die „Agave“ eine Pflanze oder ein leblos herabhängendes Lebewesen? War der Affe in „Animale“ einmal lebendig oder handelt es sich um ein durch häufiges Liebkosen verstümmeltes Stofftier? Wird der auf dem Rücken liegende Käfer es noch einmal schaffen, auf die Beine zu kommen? Oder ist er eine neu entdeckte Gattung, dessen antennenartige Auswüchse seismographisch nach oben gerichtet sind? Dieses Wechselspiel zwischen dem Lebendigen und dem Toten begegnet uns in vielen der Werke von Yvonne Roeb. Sie aktiviert damit den Bildhauermythos des Pygmalion und deutet ihn um. In den Metamorphosen Ovids erschafft sich der Künstler Pygmalion - enttäuscht von unglücklichen Liebesbeziehungen - eine ideale weibliche Skulptur aus Elfenbein und verliebt sich in sie. Die Göttin der Liebe, Aphrodite, erhört das Flehen Pygmalions und erweckt die Statue zum Leben. (Aus der Liebe zwischen Pygmalion und seiner aus der Skulptur erschaffenen Frau geht die Tochter Paphos hervor.) Im Werk von Yvonne Roeb finden wir vielfältige Bezüge zu Ovids Metamorphosen, den „Büchern der Verwandlungen“, und der ihnen zugrundeliegenden römischen und griechischen Mythologie. In Ovids Verwandlungsgeschichten wird meist ein Mensch in eine Pflanze oder in ein Tier verwandelt. Ovid nutzte die Metamorphosen gerade in der Zeit des Kaisers Augustus als Medium der versteckten Kritik an dessen Autokratie und selbstherrlichen Regentschaft. Die junge Künstlerin Yvonne Roeb verschafft sich Zugang zu dem männlich dominierten Bereich der bildhauerischen Produktion und kreiert durch ihre Formungskraft eigene Wesen, die ein phantasmagorisches Eigenleben entwickeln. Assoziativ und präzise bringt sie ihre Wesen nun in ihrer Duisburger Installation in neue Nachbarschaften. Sie erschafft ihnen eine eigene räumlich begrenzte und definierte Welt, die uns - einem Trugbild gleich - im Gedächtnis bleibt.

Die Titel der Skulpturen sind sprechend: Uns begegnen Wesen wie der Midnight Rider, der Go Go Gadget oder der Voodoo. Sie stammen aus Welten, die zunächst so gar nichts mit der Welt der Kunst zu tun zu haben scheinen. „Go Go Gadget!“ ist der Ausruf von Inspektor Gadget aus der gleichnamigen Zeichentrickserie, in der der etwas schusselige Detektiv Inspektor Gadget mit Hilfe dieses Befehls seine „Gadgets“, seine technischen Werkzeuge, in Funktion setzt. Maschinell verlängert er so seine Gliedmaßen und erweitert seine körperlichen Fähigkeiten. Als Maschinenmensch überlistet er mit Hilfe seiner Nichte Sophie und dem Hund Fino den bösen Dr. Kralle und sorgt dafür, dass am Ende das Gute die Oberhand behält.

Ganz anders in der Welt der Skulpturen Yvonne Roebs: Hier dominieren Tiere und Mischwesen das Geschehen, die uns eher befremden und erschaudern lassen. Roebs „Go Go Gadget“ aus dem Jahr 2015 ist ein bieber- oder rattenähnliches Wesen, das uns mit seinen unnatürlich verlängerten Armen und krallenartigen Händen empfängt. Im Unterschied zur farbenfrohen Zeichentrickserie scheint Roebs „Gadget“ aus einer längst vergangenen Zeit zu stammen. Sein Material, patinierter Bauschaum, imitiert bronzene Patina, eine Schicht, die in Folge der Verwitterung der Oberfläche als Zeichen der Alterung entsteht. Die englische Bezeichnung Gadget steht in der Welt des Internets für technische Spielerei oder kleines technische Spielzeug mit einer technischen Funktion, die bislang noch unbekannt war.

Auch Wesen wie der Midnight Rider oder die Vodoos erscheinen wie Relikte längst vergangener Zeiten und spielen zugleich auf aktuelle Phänomene an. Im „Midnight Rider“ Yvonne Roebs schaut uns ein beckenknochenähnliches „Gesicht“ an, dessen lange schwarze Haare herabhängen. In „Voodo II“ aus dem Jahr 2014 wird aus dem Gesicht eine totenkopfähnliche Fratze. Roeb stellt Bezüge sowohl zur heutigen Medienwelt als auch zur Mythologie, Religion und zur Natur- und Kulturgeschichte her; sie arbeitet mit Motiven aus der Welt des Horrors, die unser kollektives visuelles Gedächtnis bevölkern. Es ist eine besondere Form des Schauers, den ihre Arbeiten bei uns auslöst. Denn er wird begleitet von einer außergewöhnlichen Schönheit der Form und des Materials.

Teil ihrer Duisburger Installation „Divine Beast“ ist eine monumentale Bodenarbeit: Von der oberen Galerie schauen wir auf zwei urwüchsige Teppiche, auf denen sich zwei Schlangen begegnen. Genau genommen ist es eine Schlange und ihr auf den Kopf gestelltes Spiegelbild. Roeb aktualisiert den Schlangenmythos, der wie kaum ein anderer die Menschheitsgeschichte prägt. In den unterschiedlichsten Kulturen wird die Schlange zugleich verehrt und gefürchtet. Sie ist es, die Adam und Eva in der Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments dazu verführt, die Früchte vom Baum der Erkenntnis zu essen. Die Schlange steht für Hinterlist, Verführung und den Tod. In der Kunstgeschichte gehört Aby Warburgs Bericht vom Schlangenritual der Hopi-Indianer zu den grundlegenden Texten der kunstwissenschaftlichen Methodik. Der Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler Warburg, einer der einflussreichsten Forscher der Kunstgeschichte, kam 1895 im Rahmen seiner Studien in Arizona und New Mexico zu dem Schluss, dass die verbindenden Elemente der alteuropäischen und indianischen Mythologie in dem Prozess der ständigen Erneuerung durch den Vorgang des Häutens zu finden sind. Allgemeingültig und über kulturelle Unterschiede hinweg symbolisiert die Schlange, so Warburg, den Kreislauf des Lebens von der Geburt bis zum Tod.

Heute begegnet uns das Schlangenmotiv in der Welt des Science Fiction ebenso wie in unserem Alltag im Zeichen der Ärzte und Pharmazeuten in Form des Äskulapstabes, ein von einer Schlange umwundener Stab. Wir verbinden mit der Schlange heute so unterschiedliche und widersprüchliche Assoziationen wie Gefahr, Schrecken, Tod, Schönheit und die Kunst des Heilens. Im Werk Yvonne Roebs ist die Schlange ein dominantes Motiv, an dem sie sich in unterschiedlichen Varianten abarbeitet. Die Duisburger Bodenarbeit, konzipiert für die besondere Vogelperspektive in der Glashalle, ist dabei in seiner Monumentalität ein vorläufiger Höhepunkt.

Yvonne Roeb setzt mit ihrem skulpturalen Werk einen nahezu unendlichen Prozess der Deutung von Symbolen in Gang und verwebt unterschiedliche Zeit- und Wirklichkeitsebenen miteinander. Sie bewirkt damit eine Rezeption, die unserer Bewegung in der Welt des Internets ähnelt. Im Internet bewegen wir uns imaginär durch disparate Informationen, die aus unterschiedlichsten Zeiten und Realitäten stammen. Auch hier schiebt sich Fiktionales, Dokumentarisches, Historisches und Aktuelles ineinander; in immer neuen Nachbarschaften entstehen sich unaufhörlich ändernde Kontexte, die von uns entschlüsselt werden wollen. Roeb provoziert mit ihrem skulpturalen Werk eine Form der Deutung von Bildern und Informationen, die wir in der Welt des Internets erlernt haben. Sie erfindet dazu eine komplexe Symbolsprache, in der uns bestimmte Motive immer wieder begegnen Einer Forscherin gleich stellt sie Untersuchungen an, um sich dem Wahren, dem Existentiellen unserer Zeit anzunähern. Ihre Skulpturen greifen allgemeingültige und - verständliche kulturelle Motive und Formen auf und initiieren deren Transformation und Erneuerung.

Das räumliche und gedankliche Umkreisen ihrer Duisburger Installation kann die Form des symbolischen und rituellen Kultus annehmen. Ihre Skulpturen erinnern an die kleinen skulpturalen Wesen, die in der mittelalterlichen Sakralarchitektur die Kapitelle der Säulen bevölkern und das Böse abwenden sollen. Ähnlich wie das Zeichen des Kreuzes können sie apotropäisch wirken, das Unheil abwendend. Das Apotropäische hat seinen Ursprung in der Antike: Die apotropäischen Götter konnten Unheil verursachen, gerade wegen dieser Fähigkeiten traute man ihnen - ähnlich wie der Schlange - auch zu, Unheil abzuwehren. Die Wesen der Roebschen Motivwelt gleichen Archetypen: Es sind immer wieder auftauchende, allgemeingültige Grundformen, die ihren Ursprung in unseren Träumen, in Märchen, Mythen und Legenden haben. Sie sind in ihrem Wesen unanschaulich und vor allem in unserem Unbewussten präsent. Indem Roeb sie plastisch greifbar macht, sie transformiert und erneuert, kann ein Prozess der Konkretisierung und Benennung beginnen, der uns in unserer rationalen, technizistischen Welt die Wirkmacht des Irrationalen ahnen lässt. Haben wir uns die Roebsche Ikonographie einmal angeeignet, können wir uns dechiffrierend, lesend und entschlüsselnd durch ihre traumhaften Szenarien bewegen und uns unseren eigenen Ängsten und Träumen nähern.