Yvonne Roeb

  Katalogtext: Wewerka Pavillon 2005, Kunsthalle Recklinghausen
Installation: "Nachtbedeckt"
von Prof. Dr. Ferdinand Ullrich


Vom antiken Mythos bis zum Film des 20. Jahrhunderts reichen die Beispiele, in denen der Wolf eine tragende Rolle spielt. Selbst Politik und Zeitgeschichte liefern Anknüpfungspunkte zum Thema.
Rom verdankt seine Entstehung und seinen Namen Romulus, der von einer Wölfin gesäugt wurde. Bei Rotkäppchen verkleidet sich der Wolf als Großmutter, um so sein Opfer zu überlisten. Im Werwolf verwandeln sich bei Vollmond Menschen in Tiere und offenbaren damit ihre negativen, „nicht-menschlichen", gleichsam natürlich-grausamen Seiten. Es offenbaren sich darin die eigentlichen Schattenseiten der menschlichen Seele: wild und unzivilisiert, grausam und rücksichtslos gegen sich selbst. Homo homini lupus - der Mensch ist des Menschen Wolf, so Thomas Hobbes. Bei Roman Polanskis Horrorkomödie „Tanz der Vampire" (1967) verbünden sich die Wölfe mit den Vampiren, während bei Kevin Costners Westernepos „Der mit dem Wolf tanzt" (1990) das Tier zum Spiegelbild des Menschen wird.
Geht man in die neuere Zeitgeschichte, so wäre Winifred Wagner zu erwähnen, die Adolf Hitler „Wolf" nannte und der von den Wagner-Kindern folglich „Onkel Wolf" genannt wurde. „Graue Wölfe" nennen sich die türkischen Faschisten, die für zahlreiche Terror- und Mordanschläge in ganz Europa verantwortlich sind.
In der Kunst ist Joseph Beuys Aktion mit einem amerikanischen Präriewolf, dem Kojoten vom Mai 1974 bekannt: „Coyote; I like America and America likes me". In der New-Yorker Galerie René Block verbrachte er drei Tage und drei Nächte mit dem Wolf und kommunizierte mit ihm stellvertretend für Amerika.
Die Verhaltensweisen des Wolfs erscheinen wie ein Spiegelbild der archaischen Seite des Menschen. Erst die neuere Verhaltensforschung hat das Klischee gründlich revidiert und den Wolf als ausgesprochen soziales Wesen ausgemacht.
Für den Menschen ist der Wolf offensichtlich von ganz besonderem Interesse. Sein Verhalten wird erforscht, seine Nicht-Domestizierbarkeit bewundert - er bleibt ein wildes unzähmbares Tier.
Yvonne Roeb macht dieses so vorbelastete, gleichsam stigmatisierte Tier zum Hauptakteur ihrer komplexen Installation.
Die Handlung der Videoprojektion ist schnell erzählt: Ein Wolf betritt die Bühne, führt seinen Tanz auf und verwandelt sich in eine Pflanze - dieser Vorgang wiederholt sich beständig. Fauna verwandelt sich in Flora. Das Tier bleibt in der Natur gefangen. Die Projektion ist aber so eingerichtet, dass der Wolf lebensgroß erscheint. In einem unkonzentrierten Moment könnte der Betrachter so die bloße Erscheinung für die Wirklichkeit nehmen und vor dem vermeintlich im Pavillon herumlaufenden Wolf erschrecken.
Der Film mit seiner eigenen Dramaturgie ist eingebettet in eine scherenschnittartig angedeutete Waldlandschaft. Diese ist nicht bloße Erscheinung, sondern als Scherenschnitt wirklich ausgeführt wie ein abstrahierender Rahmen. Neben der realistischen Handlung der Videoprojektion wirkt der Rahmen wie ein Schattenreich, aus dem der Wolf kommt und in das er immer wieder zurückkehrt. So werden tatsächliche Fläche und illusionistischer Raum miteinander verwoben. Was die Wirklichkeit ist oder welche Darstellungsform ihr am nächsten kommt, bleibt unklar wie beim platonischen Höhlengleichnis.
Das dramatische Geschehen spielt sich auf der äußersten Fläche des Pavillons ab, auf seiner Haut. Als Membran zwischen Innen und Außen zieht sie auch den Betrachter ins Geschehen mit ein, denn die Projektionsfläche ist allein durch die Grenzen der Architektur des Pavillons begrenzt.
Während des Tages schlummert das Geschehen als bloßes Potential. Sichtbar ist nur die Scherenschnittlandschaft. Der Auftritt des Wolfes ist der Nacht vorbehalten. So haben wir ein wirkliches Nocturno vor uns, ein „Nachtstück", das seine Wirkung nicht nur technisch, sondern auch emotional in der Dunkelheit entfaltet. So ist es nicht nur ein Geschehen mit eigener Dramaturgie, sondern auch ein zyklisches, nicht endendes Ereignis, das vom Tageslauf genau so abhängig ist wie vom Jahreszyklus mit den wechselnden Zeiten des Einbruchs der Dunkelheit.
Dabei eignet der Szenerie doch auch ein spielerisches Element. Es geht nicht um die Täuschung, um die Erzeugung eines kurzfristigen Horroreffektes wie in einer Geisterbahn auf der Kirmes. Alles findet mit der angemessenen ästhetischen Grenze auf einer - oder besser gesagt - in einer Bühne statt. Die tatsächliche Überschreitung dieser Grenze, weder durch das künstlerische Geschehen noch durch den Betrachter, ist nicht gewollt. So ermöglicht die Gesamtinstallation eine sehr viel stärker differenzierte Wahrnehmung, die auf den bloßen Effekt sehr wohl verzichten kann, nicht aber auf eine hochgradige Emotion.
Fiktion und Realität bleiben im Wesentlichen ununterscheidbar. Und je mehr sich die klirrend kalte Winternacht über die Szene legt, desto unwirklicher wird die Situation. Der Pavillon ist dann mehr als nur ein Gehege wie im nahe gelegenen Zoo, er wird zu einem magischen Ort, an dem unsere Ängste ihren Ausdruck finden und zugleich auch ein versöhnendes Bild bieten. Die bewirkende Natur und die bewirkte Natur gehen in eins. Die Metamorphose von der höheren Natur in die niedrigere, vom Tier zur Pflanze und umgekehrt erscheint als vollendet harmonisch und selbstverständlich. Domestizierung wechselt sich ab mit absoluter Freiheit, wie die Formfindung auch die Formauflösung beinhaltet. Jenseits bloß romantischer Naturvorstellungen führt uns Yvonne Roeb hier das Verhältnis von Natur und Mensch als zyklisches Geschehen vor. Es ist ein Gleichnis für die Natur des Menschen und seine Beziehung zur natürlichen Natur.